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Josef Herlitz, Kap. 3: Kirche

  • Autorenbild: Christoph
    Christoph
  • 26. Sept. 2019
  • 14 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 27. Sept. 2019

Im Juli 2013 habe ich mein Studium der Geschichte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf mit einer Arbeit zum Thema "Glaube und Deutschland - Katholische Kirche und Nationalsozialismus am Beispiel von Josef Herlitz" abgeschlossen. Grundlage der Arbeit ist ein bis heute unveröffentlichtes Tagebuch des ehemaligen Neersener Bürgermeisters Josef Herlitz. Eine gekürzte Version der Arbeit wurde 2015 im Heimatbuch des Kreises Viersen veröffentlicht.


3. Die Situation der katholischen Kirche in Deutschland

Als die Nationalsozialisten im Jahre 1933 in Deutschland die Macht übernahmen, hatte die katholische Kirche in Deutschland bereits eine Geschichte voller gesellschaftlichem und politischem Druck hinter sich. Der Katholizismus war im deutschen Kaiserreich fast immer in einer Randposition. Sein ‚deutsch sein‘ wurde oft in Frage gestellt - unter Bismarck so sehr, dass die Katholiken im sogenannten Kulturkampf zu Reichsfeinden erklärt wurden. Papsttreue Katholiken könnten dem neuen protestantischen Kaiserhaus nicht treu sein, so die einfache Überlegung. „Der Kulturkampf begann mit der Auflösung der katholischen Abteilung im preußischen Kultusministerium sowie der Reduzierung der Zuwendungen des Staates an die Kirche. Letztere war im Zuge der Säkularisierung 1801 zu weiten Teilen enteignet worden und konnte ohne die staatliche Unterstützung ihre karitativen Aufgaben nicht im gleichen Umfang weiterführen.“[1] Zudem wurde 1871 der ‚Kanzelparagraf‘, §130a des Strafgesetzbuchs, eingeführt, der unliebsame Predigten unter Strafe stellte, das ‚Jesuitengesetz‘ von 1872 verwies den Jesuitenorden aus Preußen, 1873 wurden die preußischen Verfassungsartikel über die Unabhängigkeit der Kirche vom Staat aufgehoben, ein Jahr später die ‚Maigesetze‘ verabschiedet, mit denen die Regierung Einfluss auf die Berufung von Geistlichen nahm. Im Jahr 1875 wurden schließlich alle katholischen Orden in Preußen aufgelöst, mit Ausnahme derer, die sich der Krankenpflege widmeten.[2] Auch im neuen Jahrhundert wurde die Auseinandersetzung weiter verschärft, im ‚Gewerkschaftsstreit‘ wurden katholische Arbeitervereine bekämpft, im ‚Akademischen Kulturkampf‘ katholische Wissenschaftler diffamiert.[3] Insgesamt wurden während des Kulturkampfes 4.000 Ordensniederlassungen aufgehoben und sechs preußische Bischöfe abgesetzt. Über 1.400 katholische Pfarreien waren ohne Priester.[4]


Erst im Ersten Weltkrieg gelang es den Katholiken, ihre bis dato angezweifelte Loyalität gegenüber dem Staat zu beweisen und „…sich vom Kainsmal der vermeintlichen ‚Reichsfeindschaft‘ zu lösen…“[5]. Mit der Verabschiedung der Weimarer Reichsverfassung endete für die Katholiken in Preußen auch gesetzlich die Zeit des Kampfes: „Im Unterschied zur Reichsverfassung von 1871 begründete die Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919 erstmals im Deutschen Reich eine verfassungsmäßige Zuständigkeit für die Ordnung des Verhältnisses von Kirche und Staat. Bis dahin waren entsprechende Regelungen Obliegenheiten der deutschen Länder, weswegen in Preußen unbehindert der Kulturkampf toben konnte.“[6]


Mit dem Zentrum wurde der politische Katholizismus, bislang als Gegner der staatstragenden Parteien wahrgenommen, als Koalitionspartner eine der tragenden Säulen der jungen Demokratie. Doch auch wenn die meisten Katholiken selbst zu Beginn der dreißiger Jahre keine Geschichte der Ausgrenzung durchgemacht hatten, sondern die kirchenpolitische geruhsamere Weimarer Zeit als die Regel ansahen, hatte die Zeit des Kulturkampfes ihre Spuren hinterlassen und den Katholizismus geprägt.[7]

Der Kulturkampf hatte die Katholiken zusammengeschweißt.[8] Otto von Bismarck hatte den Katholizismus mit seiner Kampagne nicht neutralisiert, sondern letztlich gestärkt. „Bismarck hatte angenommen, dass das katholische Lager unter dem Druck der neuen Gesetze gespaltet werden würde: Die Ultramontanen (Fürsprecher der päpstlichen Autorität) sollten an den Rand gedrängt werden, die übrige Kirche hingegen sollte sich zu einem gefügigen Partner des Staates entwickeln. Doch das Gegenteil trat ein: Die staatliche Vorgehensweise hatte den Effekt, dass liberale und etatistische Elemente im Katholizismus zurückgedrängt und marginalisiert wurden.“[9] Auch die Zentrumspartei war durch den Kulturkampf gestärkt und zum politischen Arm der Katholiken geworden: Hatten im Jahr der Reichsgründung 1871 nur 23 Prozent der preußischen Katholiken das Zentrum gewählt, gaben drei Jahre später bereits 45 Prozent von ihnen der katholischen Partei ihre Stimme. „Zum großen Teil dank der Exzesse von Bismarcks Kulturkampf erlebte das Zentrum eine frühe Blüte, schlug tiefe Wurzeln in seinem sozialen Milieu, mobilisierte Katholiken, die bislang politisch passiv geblieben waren, und dehnte die Grenzen der Parteipolitik aus.“[10] Auch abseits der Politik bildete sich eine eigene katholische Lebenswelt heraus, Verbände, Studentenverbindungen, Arbeiter- und Frauenvereine sorgten dafür, dass man sich stets in einer katholischen Lebenswelt bewegte. „Es war typisch für das Milieu, dass Verbände und Vereine das Leben gleichsam von der Wiege bis zur Bahre begleiteten.“[11] In dieses feste Milieu war schwer einzudringen und deshalb war es ab 1933 den neuen nationalsozialistischen Machthabern ein Dorn im Auge.


Auch die katholische Amtskirche erkannte einen neuen weltanschaulichen Konflikt der sich anbahnte. Bereits vor der Reichstagswahl 1930 verbot sie den katholischen Geistlichen eine Mitarbeit bei den Nationalsozialisten. Bei der Fuldaer Bischofskonferenz im August 1932 erneuerte die Kirche diesen Beschluss, darüber hinaus „…wurde der ‚glaubensfeindliche Charakter‘ und die Ablehnung der konfessionellen Schule und der christlichen Ehe durch die NSDAP konstatiert sowie betont, ‚daß, wenn die Partei die heiß erstrebte Alleinherrschaft in Deutschland erlangt, für die kirchlichen Interessen der Katholiken die dunkelsten Aussichten sich eröffnen.‘“[12]


Jedoch auch wenn Hans-Ulrich Wehler die „…unzweideutige Kritik mit der die katholische Amtskirche bis 1933 der Hitler-Bewegung begegnete [als] …ein Ruhmesblatt ihres politischen Urteilsvermögens“[13] betrachtet, fällt bereits in dieser frühen Phase auf, dass im Fokus der Kirche nicht die staatlichen Ziele des Nationalsozialismus oder seine Ablehnung der parlamentarischen Demokratie stehen, sondern religiöse Aspekte.[14]

Die katholische Kirche war zu dieser Zeit eine mächtige Institution in Deutschland. Zwar gab es 1933 deutlich mehr, nämlich 41 Millionen evangelische Christen, aber auch die katholische Kirche versammelte 21 Millionen Gläubige. Insgesamt gehörten somit etwa 95 Prozent der 65,21 Millionen[15] Deutschen zu einer der beiden großen Konfessionen. Die Katholiken erwiesen sich dabei als die aktiveren Gemeindemitglieder, etwa zwei Drittel lebten ihren Glauben, bei den Protestanten waren es etwa ein Viertel.[16] Zwar befanden sich die Katholiken reichsweit in der Minderheit, in vielen Regionen Deutschlands stellten sie aber dennoch eine deutliche Bevölkerungsmehrheit, so im Rheinland, im Ruhrgebiet, in Altbayern, der Oberpfalz, Südbaden, Südwürttemberg, Unterfranken und Oberschlesien.

Bei den Reichstagswahlen vor 1933 zeigte sich, dass der Apell der Bischöfe und die starke Bindung der deutschen Katholiken an ihre katholische Lebenswelt ihre Wirkungen nicht verfehlt hatten. Am 14. September 1930 erreichte die NSDAP zwar 18,3% der Stimmen und wurde hinter den Sozialdemokraten zur zweitstärksten Kraft im Parlament, jedoch zeigt das Wahlergebnis, dass die Nationalsozialisten in den katholisch dominierten Gebieten durchweg schlechter als im Reichsdurchschnitt abschnitten. Oft entfielen nicht einmal 10% der Stimmen auf die NSDAP. Das Beispiel der katholischen Enklaven Ermland in Ostpreußen und Eichsfeld in Thüringen zeigt besonders deutlich, dass die NSDAP im Vergleich zum protestantischen Umland von den Katholiken kaum gewählt wurde.[17] Umgekehrt ist nachweisbar, dass „…Regionen mit hohen Anteilen an evangelischer Bevölkerung… tendenziell frühere und größere Neigungen zur Hitlerpartei… erkennen ließen.“[18] Auch bei den Wahlen im Jahr 1933 lässt sich dieses Phänomen beobachten. Selbst im März, bereits unter dem Druck der nationalsozialistischen Machthaber, blieb der NSDAP der politische Erfolg in den überwiegend katholischen Gebieten versagt.[19] Gewählt wurde beständig das Zentrum oder die Bayrische Volkspartei.


Der klare Standpunkt, den die katholischen Bischöfe vor 1933 eingenommen hatten, drohte mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler im Januar 1933 zu schwinden. In seiner Regierungserklärung vom 23. März hatte Hitler der Kirche politisches Entgegenkommen signalisiert, die Bischöfe hatten daraufhin ihre Warnungen und Verbote in Bezug auf die NSDAP zurückgenommen. Fünf Tage später riefen sie die Katholiken zur Loyalität gegenüber der neuen Regierung auf. „Die nationalsozialistisch geführte Regierung war zur rechtmäßigen Obrigkeit geworden…“,[20] auch für die katholische Kirche, die nun damit begann sich mit dem neuen Staat zu arrangieren und ihren Platz darin zu suchen.


3.1 Das Konkordat 1933


Das Konkordat zwischen der Katholischen Kirche, vertreten durch den Heiligen Stuhl, und dem Deutschen Reich, das am 20. Juli 1933 geschlossen wurde, sicherte der Kirche in seinen ersten zwölf Artikeln das Recht auf Eigenständigkeit, die Religionsfreiheit ihrer Mitglieder, sowie den ungehinderten Kontakt zwischen Papst, Bischöfen, Priestern und Gläubigen. Die Errichtung und Besetzung der kirchlichen Ämter sowie die Tätigkeit der Geistlichen sollten, so wurde vereinbart, auch künftig ungestört erfolgen können. Die Existenz und Tätigkeit der klösterlichen Verbände, das kirchliche Eigentum und die Staatsleistungen, die Militär- und Anstaltsseelsorge wurden vom Staat garantiert. Die Ausbildung der Geistlichen an kirchlichen Anstalten, der konfessionelle Religionsunterricht, die Bestellung der Religionslehrer und die Einrichtung katholischer Bekenntnisschulen wurden vereinbart. Auch die Ernennung von Bischöfen sollte weiterhin der Kirche obliegen, auch wenn die Leistung eines bischöflichen Treueeids verbindlich beschlossen wurde.[21] Ihr Platz und ihre Rechte im neuen nationalsozialistischen Staat mussten der katholischen Kirche nun vertraglich gesichert erscheinen.


Für die nationalsozialistische deutsche Regierung war der Abschluss des sogenannten ‚Reichskonkordats‘ in erster Linie eine Frage von Prestige. Mit diesem Erfolg im Rücken hoffte man auf einen Akzeptanzgewinn, zumindest aber auf eine Spaltung und ein tiefes Eindringen in das katholische Lager. Schon beim sogenannten ‚Ermächtigungsgesetz‘ hatte die Regierung den parlamentarischen Arm des Katholizismus, die Zentrumspartei, auf ihre Seite ziehen können: „Gegen kleine verbale Konzessionen (Entgegenkommen im Hinblick auf die Bekenntnisschule, das Elternrecht, die Kirchenpolitik, die Beamtenparität) gaben …die Repräsentanten des politischen Katholizismus die Verfassung preis.“[22] Mit dem Reichskonkordat schien sich diese Erfolgsgeschichte für die Nationalsozialisten fortzusetzen, denn neben den Rechten, die der Kirche garantiert wurden, wurden auch bisherige kirchliche Betätigungen eingeschränkt oder untersagt. So verbot Artikel 32 die politische Betätigung von Geistlichen. Zwar wurde diese Bestimmung formaljuristisch nicht wirksam, da anders als im Schlussprotokoll vereinbart, keine gleichlautenden Regelungen mit den nichtkatholischen Konfessionsgemeinschaften verabschiedet wurden, aber die Stoßrichtung zielte klar gegen die - beim endgültigen Abschluss des Konkordats jedoch schon aufgelösten - katholischen Parteien Zentrum und BVP, die besonders in den 30er Jahren von Geistlichen durchdrungen waren. Auch die Tätigkeit aller anderen katholischen Organisationen und Verbände wurde auf ausschließlich religiöse, rein kulturelle und karitative Zwecke beschränkt. Welche Verbände unter dieser Voraussetzung staatliche Anerkennung erhalten sollten, wurde während der Konkordatsverhandlungen lange diskutiert und sollte einer späteren Vereinbarung vorbehalten bleiben.[23]


Einige Historiker rücken auch die Auflösung der katholischen Parteien am 04. und 05. Juli 1933 in einen direkten Zusammenhang mit dem Konkordat. So beklagt Hans-Ulrich Wehler: „Katholische Politik drehte sich im Kern allzu häufig um Religion und Kirche, Schule und Parität im Staatsapparat. Der Blick auf das gesellschaftliche und politische Ganze ging dabei häufig verloren oder wich einem rein taktischen Durchsetzungskalkül…. Politisierende Kleriker wie die Prälatenriege …waren von vornerein mehr an Kirchenpolitik im engeren Sinne als an der Verteidigung der demokratischen und rechtsstaatlichen Republik gegen den Anprall des Rechtstotalitarismus interessiert. Die Aussicht auf ein Reichskonkordat unterspülte die letzten Widerstandsbastionen.“[24] Jedoch ist diese These umstritten. Es gibt auch Argumente, die gegen diese ‚Kausalitätsthese‘, also den angeblichen Zusammenhang zwischen dem Ende der Zentrumspartei und den Konkordatsverhandlungen, sprechen: Immerhin lösten sich in kürzestem Zeitraum nicht nur die katholischen, sondern auch die übrigen Parteien der Weimarer Zeit auf. „Seit 1933 betrieb Hitler systematisch die Liquidation und Auflösung von Parteien und Gewerkschaften. Die Kommunistische Partei existierte spätestens seit der Notverordnung des Reichspräsidenten „zum Schutz von Volk und Staat“ (‚Reichstagsbrandverordnung‘) vom 28. Februar 1933 ohnehin nur noch im Untergrund. Am 22. Juni 1933 wurde die Sozialdemokratische Partei (SPD) verboten. Die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) wurde schrittweise gleichgeschaltet und am 27. Juni 1933 praktisch zur Selbstauflösung gezwungen. Die Deutsche Staatspartei löste sich am 28. Juni 1933 auf. Am 4. Juli 1933 erfolgte die Selbstauflösung der Bayrischen Volkspartei (BVP) und der Deutschen Volkspartei (DVP). Unter diesem politischen Gleichschaltungsterror war auch die zwangsweise Selbstauflösung der Deutschen Zentrumspartei … unausweichlich geworden. Insofern erscheint die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Selbstauflösung des Zentrums am 5. Juli 1933 und der Paraphierung des Reichskonkordats am 8. Juli 1933 eigentlich nur als eine akademische Frage…“[25]. Der innere Zustand der beiden Parteien könnte ebenfalls ein Grund für diese Entwicklung gewesen sein, besonders da im Juni 1933 nur wenige Insider von den Gesprächen über das Reichskonkordat wussten.[26]


Doch auch ohne einen direkten Zusammenhang zwischen der Auflösung der Zentrumspartei und dem Abschluss des Konkordats blieb das Reichskonkordat für die Nationalsozialisten ein großer Erfolg. Vor diesem Hintergrund muss man sich fragen, was die Kirche sich von dieser Vereinbarung erhofft hatte. Bereits seit dem Ende des Ersten Weltkriegs war die Neuordnung der Beziehungen zwischen Staat und Kirche ein wichtiges Anliegen des Heiligen Stuhls gewesen. Aus diesem Grund wurden nicht nur mit dem Deutschen Reich, sondern auch mit der Sowjetunion Konkordatsverhandlungen geführt.[27] In Deutschland ging es darum, die bis dahin gültigen staatskirchenrechtlichen Regelungen vom Anfang des 19. Jahrhunderts, die längst überholt waren, zu erneuern.[28]


Zudem dürfte für den Abschluss die Überlegung mit ausschlaggebend gewesen sein, einen befürchteten Kirchenkampf vielleicht nicht verhindern zu können, aber nach dessen Beginn eine für die Kirche und die deutschen Katholiken günstige völkerrechtliche Verteidigungslinie zu besitzen.[29] Wie so etwas konkret funktionieren kann, zeigt beispielhaft auch die Erfahrung aus einer anderen Diktatur - so verweist der ehemalige DDR-Bürgerrechtler und heutige Bundespräsident Joachim Gauck in seinen Erinnerungen auf den Dialog, den SPD und SED im Sommer 1987 geführt und dessen Ergebnisse sie im sogenannten ‚Dialogpapier‘ veröffentlich hatten: „Helmut Schmidt hat dieses Papier in seinen Erinnerungen als ‚moralisch und politisch‘ abwegig bezeichnet, Sozialdemokarten alter antikommunistischer Prägung und Christdemokraten kritisierten zu Recht seine Phrasen, seine politischen Illusionen und den peinlichen Schulterschluss, doch uns versetzten Dokumente wie dieses in die Lage, Druck auf die Partei auszuüben, indem wir sie an ihren eigenen Worten maßen.“[30] Welche Erfolgsaussicht ein solches Unterfangen in der nationalsozialistischen Diktatur haben konnte, steht auf einem anderen Blatt.


Der Konkordatsvertrag wurde am 20. Juli 1933 im Vatikan feierlich unterzeichnet. „Auch bei bisher skeptischen Katholiken und Kirchenführern stieg damit Hitlers Ansehen: ‚Was die alten Parlamente und Parteien in 60 Jahren nicht fertigbrachten, hat Ihr staatsmännischer Weitblick in 6 Monaten weltgeschichtlich verwirklicht‘, schrieb der Münchener Kardinal Faulhaber und beendete seinen Brief mit dem Wunsch: ‚Gott erhalte unserem Volk unseren Reichskanzler!‘“[31]


Wie schnell die deutschen Katholiken in die Situation kommen sollten, eine rechtliche Verteidigungslinie zu brauchen, hatte sich sicherlich niemand am Heiligen Stuhl bei Abschluss des Konkordats vorstellen können. Bereits ab 1934 gingen die Nationalsozialisten, als ob es die Garantieklauseln des Konkordats nie gegeben hätte, mit voller Wucht gegen die katholische Kirche vor. Die Schikanen und Beschränkungen erfolgten dabei, kennzeichnend für die Kirchenpolitik der Nationalsozialisten, in kleinen, immer weiter gehenden Schritten.[32]


Katholische Jugendorganisationen wurden aufgelöst, katholische Beamte schikaniert, Prozessionen von der Hitlerjugend angepöbelt und das katholische Pressewesen gleichgeschaltet. Im Jahr 1935 setzte dann eine Kampagne gegen die Orden ein, in deren Verlauf 60 Ordensleute wegen erfundener Devisenvergehen verurteilt wurden. Als diese Kampagne nicht verfing, wurden vom Mai 1936 an 274 Urteile wegen angeblicher Sittlichkeitsverbrechen gegen Priester ausgesprochen. „Es lag auf der Hand, daß damit dumpfe Vorurteile gegen die zölibatären Geistlichen bekräftigt, der Abscheu vor vermeintlichen ‚Perversen‘ genährt werden sollte.“[33]


Auch beim Religionsunterricht in der Schule, im Konkordat noch ausdrücklich garantiert, setzten die Nationalsozialisten an. Unter Anwendung des ‚Heimtückegesetzes‘ (‚Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniform‘) das seit 1934 die Kritik am NS-Regime unter Strafe stellte, wurde wiederholt Priestern die Erlaubnis entzogen, Religionsunterricht zu erteilen. In einem weiteren Schritt mussten Priester, die nebenamtlich Religionsunterricht erteilen wollten, ab 1935 eine staatliche Genehmigung beantragen. Ab 1936 wurde die gleichzeitige Tätigkeit in einer Jugendorganisation und als Religionslehrer an einer Schule verboten. Wieder ein Jahr später durfte ein Priester nur noch schulischen Religionsunterricht erteilen, wenn keine ordentlichen Lehrkräfte zur Verfügung standen.[34]


Der Heilige Stuhl reagierte vom September 1933 bis zum März 1937 mit über 70 Protestnoten und Memoranden auf die Vertragsverletzungen: Ohne Erfolg.[35] Vor diesem Hintergrund entschied sich Papst Pius XI. nicht nur die Kirchenpolitik des Dritten Reichs in einer Enzyklika mit dem Titel ‚Mit brennender Sorge‘ anzuprangern. Sie wurde am 21. März 1937 von mehr als 10.000 Kanzeln in Deutschland verlesen und in mehr als 300.000 Exemplaren gedruckt. Die Enzyklika drehte sich dabei nicht nur um die Frage der Vertragstreue, sondern auch um den ideologischen Kern des Nationalsozialismus: „Wer die Rasse, oder das Volk, oder den Staat, oder die Staatsform… vergöttert, der verkehrt und fälscht die gottgeschaffene Ordnung der Dinge.“[36]


Aufbauend auf den Vereinbarungen des Reichskonkordats, konnte Papst Pius XI sich auf diese Weise gegen den offenen Vertragsbruch der Nationalsozialisten zur Wehr setzen, ohne damit das Feld der reinen Parteipolitik zu betreten.[37] Dabei konnte er sich auf den Rückhalt im katholischen Milieu verlassen, „…das besonders in den ländlichen Gebieten mit einer festgefügten, kirchengebundenen Bevölkerung fortbestand. Hier gehörte der christliche Glaube in seiner katholischen Gestalt mit allen äußeren Einrichtungen und Lebensvollzügen zum festen Bestandteil tradierter Lebensformen.“[38]


Durch das Ende des politischen Katholizismus sowie der Einschränkung und Vernichtung der großen katholischen Standesorganisationen schrumpfte die Teilhabe von Laien an überregionalen Führungsaufgaben.[39] Die Meinungsführerschaft im katholischen Lager lag damit stärker als bisher beim Klerus - vom Papst über die Bischöfe bis zum Seelsorger vor Ort. „Dies und das Verantwortungsbewusstsein als Seelsorger veranlassten zahlreiche Geistliche, sich vor allem von der Kanzel mehr oder minder offen zu den Einschränkungen des kirchlichen Lebens zu äußern.“[40]


Auch in Neersen gab es ein festes katholisches Milieu. Das Leben in und mit der Kirche war „…für die zu mehr als 90% katholische Bevölkerung in … [den] vier Dörfern [der heutigen Stadt Willich] eine maßgebliche Rahmenbedingung ihres Daseins…“.[41] Vor diesem Hintergund verwundert es nicht, dass Neersen, wie fast der gesamte Niederrhein, auch aufgrund der Stärke der Zentrumspartei alles andere als eine Hochburg der Nationalsozialisten war. Zum Zeitpunkt der „Machtergreifung“ gab es in den vier Willicher Altgemeinden, also auch in Neersen, lediglich Stützpunkte, die kleinsten örtlichen Unterorganisationen der NSDAP. In Neersen zählte die NSDAP zu diesem Zeitpunkt etwa 25 Parteimitglieder.[42]


Ein Vorfall aus der Nachbargemeinde Schiefbahn im Sommer 1932 spiegelt beispielhaft den schwachen Rückhalt der Nationalsozialisten in der Region wieder: Im Sommer 1932 kam es zwischen einem SA-Trupp, der sich in einer ehemaligen Ziegelei provisorisch eingerichtet hatte, und der Schiefbahner Bevölkerung, nachdem ein einheimischer Arbeiter durch einen SA-Mann schwer verletzt wurde, zu einer Auseinandersetzung, aufgrund derer die SA ihren Stützpunkt räumen musste.


Mit diesem dörflichen Selbstbewusstsein war es nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten vorbei. Trotz der schwachen örtlichen NSDAP zeigte sich ab diesem Zeitpunkt keine politische Opposition mehr. „Die Äußerung abweichender Meinung geschah individuell, nie organisiert.“[43]


Ab Juni 1933 waren der Bürgermeister und der Stützpunkt- bzw. Ortsgruppenleiter der NSDAP die mächtigsten Personen im Ort. In Neersen zeigte sich dabei eine Besonderheit: Der bisherige Bürgermeister Paul Hermanns konnte sein Amt gegen den Ortsgruppenleiter Peter Pimpertz behaupten. Zwischen dem parteilosen Bürgermeister und den Neersener Nationalsozialisten entwickelte sich in der Folge ein Verhältnis gegenseitiger Duldung. Dazu trug auch bei, dass der Ortsgruppenorganisationsleiter Peter Vander als Nationalsozialist mit dem größten Einfluss im Ort, zugleich als Gemeindeinspektor der zweite Mann im Neersener Rathaus war. „Der faktisch wichtigste NSDAP-Vertreter war somit über die laufende Verwaltungsarbeit in die Weisungskompetenz des Bürgermeisters eingebunden.“[44]

Der Pfarre Neersen stand bis zum 31.03.1939 Pfarrer Voß vor. Als er am 02. April 1939 in den Ruhestand ging, folgte ihm Theodor Baaken, vorher Pfarrer in der Eifel, nach. In der Pfarrchronik notiert Pastor Baaken: „Die Neersener sind für den Führer Adolf Hitler und seine Taten durchweg hoch begeistert.“[45] Nationalsozialismus und katholische Kirche hatten sich, so scheint es, in der kleinen Gemeinde Neersen miteinander abgefunden.



[1] Michael F. Feldkamp: Mitläufer, Feiglinge, Antisemiten? Katholische Kirche und Nationalsozialismus, Augsburg 2009, S. 15f.

[2] Michael F. Feldkamp: Mitläufer, Feiglinge, Antisemiten? Katholische Kirche und Nationalsozialismus, Augsburg 2009, S. 15f.

[3] Michael F. Feldkamp: Mitläufer, Feiglinge, Antisemiten? Katholische Kirche und Nationalsozialismus, Augsburg 2009, S. 17.

[4] Michael F. Feldkamp: Mitläufer, Feiglinge, Antisemiten? Katholische Kirche und Nationalsozialismus, Augsburg 2009, S. 16.

[5] Michael F. Feldkamp: Mitläufer, Feiglinge, Antisemiten? Katholische Kirche und Nationalsozialismus, Augsburg 2009, S. 17

[6] s.o.

[7] Erwin Gatz: Die Katholische Kirche in Deutschland im 20. Jahrhundert, Freiburg 2009, S. 95.

[8] Theo Schwarzmüller: Hauenstein gegen Hitler. Die Geschichte einer konfessionellen Lebenswelt, Neustadt an der Weinstraße 2007, S. 31.

[9] Christopher Clark: Preußen. Aufstieg und Niedergang. 1600 -1947, München 2006, S. 655.

[10] Christopher Clark: Preußen. Aufstieg und Niedergang. 1600 -1947, München 2006, S. 656.

[11] Theo Schwarzmüller: Hauenstein gegen Hitler. Die Geschichte einer konfessionellen Lebenswelt, Neustadt an der Weinstraße 2007, S. 37.

[12] Michael F. Feldkamp: Mitläufer, Feiglinge, Antisemiten? Katholische Kirche und Nationalsozialismus, Augsburg 2009, S .45f.

[13] Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte Vierter Band Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914-1949, München 2003, S. 809.

[14] Michael F. Feldkamp: Mitläufer, Feiglinge, Antisemiten? Katholische Kirche und Nationalsozialismus, Augsburg 2009, S. 45.

[15] Michael F. Feldkamp: Mitläufer, Feiglinge, Antisemiten? Katholische Kirche und Nationalsozialismus, Augsburg 2009, S. 44.

[16] Erwin Gatz: Die Katholische Kirche in Deutschland im 20. Jahrhundert, Freiburg 2009, S.95.

[17] Michael F. Feldkamp: Mitläufer, Feiglinge, Antisemiten? Katholische Kirche und Nationalsozialismus, Augsburg 2009, S. 44.

[18] Michael Kißener: Das dritte Reich, Darmstadt 2005, S. 73.

[19] Erwin Gatz: Die Katholische Kirche in Deutschland im 20. Jahrhundert, Freiburg 2009, S. 95.

[20] Erwin Gatz: Die Katholische Kirche in Deutschland im 20. Jahrhundert, Freiburg 2009, S. 97f.

[21] Michael F. Feldkamp: Mitläufer, Feiglinge, Antisemiten? Katholische Kirche und Nationalsozialismus, Augsburg 2009, S. 82f.

[22] Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Vierter Band: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914-1949, München 2003, S. 811.

[23] Michael F. Feldkamp: Mitläufer, Feiglinge, Antisemiten? Katholische Kirche und Nationalsozialismus, Augsburg 2009, S. 82f.

[24] Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Vierter Band: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914-1949, München 2003, S. 814f.

[25] Michael F. Feldkamp: Mitläufer, Feiglinge, Antisemiten? Katholische Kirche und Nationalsozialismus, Augsburg 2009, S. 84f.

[26] Michael Kißener: Das dritte Reich, Darmstadt 2005, S. 69f.

[27] Michael Kißener: Das dritte Reich, Darmstadt 2005, S. 69.

[28] Michael F. Feldkamp: Mitläufer, Feiglinge, Antisemiten? Katholische Kirche und Nationalsozialismus, Augsburg 2009, S. 25.

[29] Erwin Gatz: Die Katholische Kirche in Deutschland im 20. Jahrhundert, Freiburg 2009, S. 99.

[30] Joachim Gauck Winter im Sommer – Frühling im Herbst. Erinnerungen. München 2009, S. 135.

[31] Christian Graf von Krockow: Hitler und seine Deutschen, München 2002, S. 157.

[32] Michael F. Feldkamp: Mitläufer, Feiglinge, Antisemiten? Katholische Kirche und Nationalsozialismus, Augsburg 2009, S. 103f.

[33] Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Vierter Band: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914-1949, München 2003, S. 815.

[34] Michael F. Feldkamp: Mitläufer, Feiglinge, Antisemiten? Katholische Kirche und Nationalsozialismus, Augsburg 2009, S. 103f.

[35] Michael F. Feldkamp: Mitläufer, Feiglinge, Antisemiten? Katholische Kirche und Nationalsozialismus, Augsburg 2009, S. 118.

[36] Erwin Gatz: Die Katholische Kirche in Deutschland im 20. Jahrhundert, Freiburg 2009, S. 104.

[37] Heinz Kürten: Katholische Kirche und Widerstand, in Peter Steinbach, Johannes Tuchel (Hrsg): Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Bonn 1994, S. 83.

[38] Erwin Gatz: Die Katholische Kirche in Deutschland im 20. Jahrhundert, Freiburg 2009, S. 103.

[39] Dieter Albrecht (Hrsg): Ludwig Volk: Katholische Kirche und Nationalsozialismus - Ausgewählte Aufsätze, Mainz 1987, S. 83.

[40] Erwin Gatz: Die Katholische Kirche in Deutschland im 20. Jahrhundert, Freiburg 2009, S. 104.

[41] Michael Rotthoff: Anrath, Neersen, Schiefbahn und Willich 1933 – 1945, in: Willicher Kulturstiftung der Sparkasse Krefeld (Hrsg.): Stadtgeschichte Willich, Willich 2003, S. 600.

[42] Michael Rotthoff: Anrath, Neersen, Schiefbahn und Willich 1933 – 1945, in: Willicher Kulturstiftung der Sparkasse Krefeld (Hrsg.): Stadtgeschichte Willich, Willich 2003, S. 587.

[43] Michael Rotthoff: Anrath, Neersen, Schiefbahn und Willich 1933 – 1945, in: Willicher Kulturstiftung der Sparkasse Krefeld (Hrsg.): Stadtgeschichte Willich, Willich 2003, S. 593.

[44] Michael Rotthoff: Anrath, Neersen, Schiefbahn und Willich 1933 – 1945, in: Willicher Kulturstiftung der Sparkasse Krefeld (Hrsg.): Stadtgeschichte Willich, Willich 2003, S. 585.

[45] Dr. Wolfgang Boochs (Hrsg.): Chronik der Pfarre Neersen. 200 Jahre Pfarre Neersen 1798 – 1998, Willich 1998, S. 62f.

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